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Sonntag, 13. Dezember 2015

Taktik-Richtung

Helmut Groß ist der Mentor von Ralf Rangnick, dem er nach Hoffenheim und jetzt auch ins Fußballreich des Red-Bull-Konzerns folgte. In Salzburg und Leipzig schult er die Trainer, wirkt im Hintergrund auf die Spielphilosophie ein, beobachtet Entwicklungen. 


Groß: 1981 hatte ich als Trainer ein Jahr ausgesetzt und wollte danach etwas Neues entwickeln, um mich neu zu motivieren. Damals gab es zwar moderne Trainer wie Gyula Lorant, Pal Csernai und Ernst Happel, die sich von der damals alles dominierenden Manndeckung distanzierten und eine Art Raumdeckung spielen ließen. Deren Überlegung: Durch Raumdeckung kann man ökonomischer agieren, weil die Spieler Kraft sparen, indem sie nicht unsinnig dem Gegner hinterherlaufen müssen. Dieser Ansatz war jedoch nur bedingt erfolgversprechend.


SPOX: Weil?
Groß: Weil ich der Ansicht war, dass man die gesparte Kraft sofort ummünzen sollte in ein aggressives Pressing, um den Gegner permanent unter Druck zu setzen. Ernst Happel hat es mit der niederländischen Nationalmannschaft ansatzweise umgesetzt, aber das war mir nicht weitgehend genug. 


SPOX: Ihre Vorstellung?
Groß: Durch kluge Raum-Aufteilung kann man den Gegner dazu zwingen, über kurz oder lang Fehlpässe zu spielen. Meine Vorstellung war aber, dass man den Ball so schnell es geht erobern sollte. So entstand die Idee der ballorientierten Raumdeckung. Sprich: Bei gegnerischem Angriff müssen sich die Spieler so verschieben, dass sie - so weit entfernt vom eigenen Tor wie möglich - in Überzahl den ballführenden Gegenspieler angreifen und ihm so den Raum und die Zeit nehmen für eine vernünftige Aktion, um selbst Konter einzuleiten. Von dieser Grundidee ausgehend haben Ralf Rangnick und ich die ballorientierte Raumdeckung weiterentwickelt.



Jüngere Trainer wie Klopp, Streich oder auch Tuchel haben gezeigt, dass Fußball vor allem ein Mannschaftssport ist und man so wie in Spanien auf intelligente Weise viel in der Gruppe erledigen kann. 


das Training von Guardiola viel Kopftraining ist. Es geht am Ende für den Spieler darum, sich in größter Zeit- oder Raumnot schnell für das Richtige zu entscheiden.


Wir wissen ja, dass Guardiola es nicht gerne hat, wenn ein Spieler von der Ballannahme bis zur Abgabe mehr als zwei Ballkontakte braucht.

Die Dinge entwickeln sich rasant weiter. Man muss immer besser werden. Das heißt vor allem: schneller wahrnehmen, schneller analysieren, schneller richtig entscheiden, schneller handeln. Die Potentiale dafür im Hirn sind enorm, die können wir noch gar nicht abschätzen. Hierin stecken die größten Steigerungsraten. Es gibt schon Leute, die Computerspiele speziell für Fußballer entwickeln, um diese speziellen Denkfähigkeiten voranzubringen. Wir schulen unsere Spieler unter anderem über zusätzliche Videoanalysen. Davon kann man nicht genug haben, wenn sie gut aufbereitet sind. Darauf legen wir sehr viel Wert. Die Spieler lernen damit aus einem anderen Blickwinkel etwas über ihr eigenes Spiel und das der Mannschaft, es verbessert ihre Wahrnehmung.



Wie gestaltet sich ein gutes Training auf dem Platz?
Training heute ist etwas kürzer, aber dafür sehr intensiv. Vor allem muss es variantenreich sein. Das Motto heißt: wiederholen ohne zu wiederholen. Jede technische Übung mit einer taktischen Komponente wird nie exakt wiederholt, sondern wird durch die komplexen Einflüsse im Fußball zwangsläufig etwas verändert. Die holländische Methode, jeden technischen Trick steril tausendmal zu wiederholen, ist heute überholt. Es gibt Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen im Basketball, nach denen jener Spieler wesentlich bessere und auf die Dauer gesehen stabilere Trefferquoten hat, der im Training permanent von verschiedenen Punkten aus auf den Korb wirft. Die Erklärung ist, dass sich derjenige, der sich immer auf neue Situationen einstellen muss, konzentrierter an die Sache geht und dadurch eine höhere Trainingsleistung vollbringt.

Wir sollten uns in Zukunft verstärkt auf die Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten konzentrieren, was zum Beispiel auch bei schnellen technisch-taktischen Fußballspielchen in engen Räumen geschieht.

Es geht darum, noch effektiver als Schwarm für Überzahlsituationen auf dem Feld zu sorgen. Nicht nur durch noch schnelleres Rennen der Spieler, sondern auch Antizipieren und Schläue. Der Schwarm hat mehr Möglichkeiten als der Einzelne, der Schwarm muss aber mitdenken, gut zusammenarbeiten, sprinten, schnell reagieren. Zur Erholung kann der Schwarm den Ball laufen lassen, die eigenen Abstände vergrößern, damit der Gegner hinterherlaufen muss. Barcelona hat zuletzt bei der Erholung am Ball sehr übertrieben. Es ist nicht damit getan, dass ich mich in manchen Situationen im Ballbesitz regeneriere und der Gegner kein Tor schießt. Wenn ich selbst ein Tor schießen will, geht das nur mit Tempo und Spielwitz, ich brauche den Tempovorsprung.

Ich selbst empfinde es als „schön“, wenn ein riskanter Pass gespielt wird, der Ball verlorengeht, aber drei Spieler im Schwarm nachsetzen, den Ball wieder erobern und dann daraus das Tor entsteht. Das sieht manchmal chaotisch aus, aber es handelt sich meist um kontrolliertes Chaos mit oft sehr hoher Kreativität.


Stimmt der Eindruck, dass die einzelnen Spielerpositionen gerade im Fluss sind und es da immer weniger starre Festlegungen gibt?
Das hängt mit der Entwicklung zum Schwarmverhalten zusammen. Ich brauche Spieler, die sehr vielseitig sind im Zusammenwirken und unterschiedliche Situationen bewältigen. Spieler mit „besonderen Waffen“ brauche ich zwar auch noch, aber ganz wenige. Vielleicht ganz vorne als Stürmer, aber auch da gibt es schon andere Lösungen. Hier entscheiden mehr Spielwitz und Geschicklichkeit. Heute wird sowieso versucht, flach und schnell zu spielen, da brauche ich nicht unbedingt jemanden, der auf eine finale Flanke wartet. Mehr als 90 Prozent der Tore werden im Strafraum vorbereitet. Flanken von ganz außen, welche die Zuschauer oder der Fernsehkommentator immer so gerne fordern, führen nur im Promillebereich zu Toren. Da ist aufgrund der langen Flugbahn die Abwehr mit langen Kerls und Torwart klar im Vorteil.
walerijlobanowskyjernsthappelarrigosacchijohancruyffpepguardiolapauldauer

     







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